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Herbert Molderings über die Arbeiten von Isaak Broder bei der Verleihung des Gargonza Art Awards:



“ [...] Die Fotografie kann man als technisches Gewerbe praktizieren, als simple Dokumentation, aber das ist es nicht, was Isaak Broder sucht.
Er betreibt sie als freie Kunst, als eine geistige Funktion mit dem Ziel, sich in der Wirrnis der Welt zurechtzufinden. Wenn ich seine Bilder richtig verstehe, geht es ihm in erster Linie um die Erkundung des Raums. Er versucht auf eine besondere Art und Weise, Topografien von Lebens-Räumen festzuhalten, in Räumen, oft fremden Räumen, in denen er lebt, sei es zum Beispiel in Mexiko Stadt, in New York oder aktuell an seinem neuen Lebens- und Arbeitsort Berlin, Orte zu finden, die ein Echo wecken von Innenräumen, das heißt von seinen persönlichen Erinnerungsräumen. Das ist ein sehr schwieriger Vorgang, wie Sie sich vorstellen können. Wir können diesen Erinnerungsraum auch altertümlich die Seele nennen, wie auch immer, und er macht das auf sehr zurückhaltende Weise. Es ist eine langsame Fotografie, sie hat nichts Momenthaftes, nichts Schnapschusshaftes und verlangt daher auch vom Betrachter eine gewisse Langsamkeit. Man muss sich in diese Bilder vertiefen, langsam einsehen, um die bisweilen unmerklichen, spärlichen, aber nichtsdestotrotz präzisen Formhandlungen zu erkennen, die er bei seinen Fotografien vorgenommen hat und die sich nicht dem Apparat allein zu verdanken haben.
Also können wir gespannt darauf sein, was Isaak Broder aus der Toskana an Bildern mitbringen wird. [...]”

Herbert Molderings bei der Vergabe des Gargonzastipendiums, 25. März 2012 im Atelier von Mary Bauermeister in Rösrath (bei Köln)





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Claudia-Kirsten Voigt: Text zum Ausstellungskatalog “OJOs und WALD”, April 2019



Isaak Broders Gefühl für Wald


Schon der erste Blick auf die Fotografien von Isaak Broder wird angesogen, hineingezogen in eine hierzulande zumindest noch wohlvertraute Atmosphäre. Für deren Existenz ist der vernunftbegabte Mitteleuropäer ästhetisch, ökologisch und existenziell dankbar, zumal sie sich mit wesentlichen, unauslöschlichen Eindrücken verbindet. Neben allen uralten Mythen und Märchen, in denen der Wald Gutes und Ungutes verheißt, die unser kaum auserzählbar reiches Gefühl für diesen Lebensraum prägen, neben seinen symbolischen und psychologischen Bedeutungen und dem aktuellen Bewusstsein für seinen Wert und seine Bedrohung, kann fast jede und jeder Waldbilder mit eigenen Erfahrungen konnotieren – alltäglichen oder besonderen. Der Wald der Kindheit, vermutlich der eindrücklichste, an dessen Rand man lebte, hatte die Nacht über rauschend gewacht und war gewachsen. Er lockte mit Verstecktem und Verstecken. Man konnte schon am Morgen im Schatten finden und aufsuchen – Überwachsenes und Unterholz, Gefallenes, Zerfallendes, plötzlich Erblühtes, aus der Erde geschossene Pilze, manchmal übelriechend, eine Senke, die ein heimeliger Hüttenstandort werden wollte, den bequemen Platz hoch oben in einem jüngeren Baum, von dem aus sich unsichtbar und beschützt alles beobachten ließ. Gefällte Stämme waren ein Floß und jeder Zweig brauchbar – als Schwert für den Brennesselkampf, Pfeil, Bogen oder Fahnenmast. Das Herz flatterte, wenn man weiter ging, tiefer hinein, sich ins Unvertraute vorwagte. Wenn einen ein unbekanntes Rascheln aufschreckte, war man hasenfüßig schnell und mit hocherhobenen Beinen zurück am Waldrand, auf dem bekannten Weg, dessen Ende zwei wirklich uralte Eichen flankierten. Dort war es dann doch wieder ganz hell, Straße und Wohnhaus lagen beruhigend nah. Abends, wenn alle Abenteuer bestanden waren, rochen Hände, Haare, Hosen und Haut nach Erde, Rinde und Laub.


Isaak Broders Kindheit war auch in Waldnähe angesiedelt und er hatte die Gelegenheit, viel Zeit unter Bäumen zu verbringen. Wem dieses Glück zuteil wurde, ist geprägt fürs Leben. Isaak Broders allererstes Waldbild ist in dieser Ausstellung zu sehen. Er datiert es auf die Jahre 1989/2003, denn aufgenommen hat er es im Alter von neun Jahren mit einer vom Vater geschenkten Kamera. Der Film, den er damals belichtete, ging zunächst bedauerlicherweise und für lange Zeit verschütt. Im Jahr 2003 stöberte Isaak den Film im Atelierkeller seines Vaters auf. Die Aufnahme trägt den Titel: „Lichte Gestalt nahe der Quelle“ und gilt ihm heute als ein Schlüsselwerk für die bildnerische Beschäftigung mit dem Wald: „Daraus entwickelte sich Stück für Stück das Interesse, sich mit der Kamera diesem Thema zu widmen und nicht nur dort, wo ich aufgewachsen bin, sondern auch an anderen Orten in anderen Ländern, die kurzzeitig zu meiner Heimat wurden“, erläutert Broder.


Wo beginnt man mit der Beschreibung eines Waldes, vieler Wälder und der Bilder von ihm? Botanisch, geographisch? Nadelwald, Mischwald, Laubwald, Trockenwald, Hartlaubwald, Regenwald, Hutewald, Nutzwald, Stadtwald, Schwarzwald oder sogar Parklandschaft und Landschaftsgarten, Urwald oder vom Menschen „renaturierter“ Wald auf dem – na ja, so ungefähren – Rückweg zum, einer Art von „Ur-Wald“. Unübersehbar: Welches Biotop Isaak Broder auch immer auf seinen Reisen durchstreift, ganz gleich, welches Terrain er erkundet – da gibt es heimische Wälder und mediterrane, solche auf diesem und manche auf anderen Kontinenten –, er entzieht ihm die Farbe, konzentriert sich auf Struktur und Komposition, auf Perspektiven oder Ausschnitte. Mitunter werden erstaunliche Symmetrien durch den gewählten Blickwinkel ins Bildgeviert gesetzt. Manchmal arbeitet der Fotograf mit schwergewichtigen Zentralkompositionen. Fast nie wird Panoramatisches inszeniert. Zumeist bleibt der Blick ausschnitthaft, auf Baumsegmente, Waldinnenräume konzentriert. Auf diesen Strukturen geht es um das Spiel des Lichts – auf Stämmen und zwischen ihnen, durch die Blätter und über sie hinweg. Allein schon die große strukturelle Diversität begeistert den Betrachter für dieses Motiv – sie wird überdeutlich und zum Thema trotzt der abstrahierenden und damit auch vereinheitlichenden Strategie der Beschränkung auf das Schwarzweiß. Isaak Broders analoge Fotografie – mit Kameras aller Formate – ist Lichtbildnerei in einem geradezu klassischen Sinn. Er kann mit ihrer Hilfe in der Dunkelkammer beim Abzug auf Papier das betonen, was er erinnert, was das Motiv für ihn belangvoll und bannend machte, zu einer Wahrnehmung, die mit dem Druck auf den Auslöser bewahrt werden soll. Denn so sehr sicherlich die räumliche Komponente dieser Bilder von Belang sein mag, noch wesentlicher ist die Überraschung, für die Broder immer wieder mit der Regie des Lichts sorgt. Es leuchtet aus dem Hintergrund, hindurch zwischen schlanken jungen Stämmen, es fällt in einem Kegel dramatisch steil hinunter auf einen dunklen Weg, es verflüchtigt sich ätherisch, dunstig, feucht über dem Gestrüpp, es breitet sich aus ohne dass seine Quelle auszumachen wäre. In jedem dieser Wälder entwickeln sich unsäglich viele Eigenleben und das Licht potenziert und expliziert die flirrende Unberechenbarkeit dieser Eigendynamik, der lautlosen Wandlungen, der unsichtbaren Schwingungen und Wachstumsprozesse.


Auf dem Land leben – das wollen im Augenblick jüngsten Umfragen zufolge 62 Prozent der Deutschen. Gegenwärtig wohnen allerdings rund 75 Prozent von ihnen in Städten. Mehr als 50 Prozent der Weltbevölkerung sind nach einer Statistik der Vereinten Nationen derzeit in Städten angesiedelt. In den USA sind 82 Prozent der Bevölkerung Städter, in Lateinamerika und der Karibik 81 Prozent, in Europa 74 Prozent und im Jahr 2050 werden zwei Drittel der Menschheit in Städten wohnen. Der Zeitpunkt ist absehbar, zu dem Milliarden von Kindern keinen Wald aus eigener Anschauung kennen und Millionen von Menschen nie in ihrem Leben selbst einen Wald durchstreift haben werden – zumal, wenn immer mehr Wald verschwindet. Eine Menschheit, die in Städten wohnt, ist vor allem mit sich selbst beschäftigt. Mit ihren Produkten, Ambitionen und Problemen. Von diesen Menschen erzählen die Bilder Isaak Broders nichts, denn nur ganz selten, nehmen wir eine verhuschte Gestalt – etwa im Central Park – auf seinen Bildern wahr. Im Gegenteil plädieren die Aufnahmen latent dafür, dass der Wald nicht nur mehr ein erinnerter werden sollte, sondern ein ästhetisch und sozial unverzichtbarer Raum der Erfahrung ist, ein Raum, in dem sich, wenn wir ihn bewahren, von uns Unabhängiges, Wunderbares entfaltet. Er ist eine gewachsene und regenerationsfähige Metapher des noch längst nicht Durchschauten oder prinzipieller Undurchschaubarkeit. In Bildern erleben wir das nicht plakativ, sondern mitunter leicht irritierend inszeniert durch dezent verfremdende Strategien der Verdunkelung, der Vernebelung, der Kontrastschwächung. Sie verschließen diesen Raum ein wenig, damit wir ihn mit Bedacht und gesteigerter Neugier erkunden, sie machen ihn sanft überwirklich. Ob in diesen Wäldern auch „Ojos“ von Jakob Broder landen könnten, ob man hier je über sie stolpern würde? Sie wären sonderbare, amüsante Eindringlinge in diesen Wäldern, vielleicht hätten sie sich ein wenig verirrt und wären da ein wenig verloren, aber doch nicht gänzlich Fremdlinge, weil auch die Wälder mitunter ins Surreale transzendieren, weil das Licht in ihnen kunstvoller als für gewöhnlich scheint, Anordnungen nicht durchgängig zufällig oder natürlich chaotisch wirken, sondern merkwürdig absichtsvoll inszeniert sind. Das verstärken die erzählerischen Titel, die Isaak Broder seinen Kompositionen nachträglich und mitunter mit Anleihen bei Titeln von Musikstücken – aus Klassik oder Jazz – gibt, beim Hören von Musik, die der emotionalen Stimmung entspricht, die seine Bilder evozieren. Diesen Titeln hört man an, dass der Wald Geschichten erzählt – „Als das Zirpen aufhörte“, „Der versteckte Zugang“, „Das Verschwinden des Würfels“ oder „Aus einem Traum“. Geschichten vom Kommen und Gehen im wechselnden Licht.

Claudia-Kirsten Voigt

Text zum Ausstellungs-Begleitkatalog “OJOs und WALD”, Galerie Rottloff, April 2019